Jörg Heinisch hat im Arete Verlag “Das Buch der ungewöhnlichen Fußballspiele” veröffentlicht. Hier erklärt er, warum es für die Recherche hilfreich ist, zwölf Sprachen zu nutzen, und warum der Fußball auch noch im 21. Jahrhundert die besten Geschichten selbst schreibt. Man muss sie eben nur finden und erzählen!

Ihr neues Buch im Arete Verlag heißt „Das Buch der ungewöhnlichen Fußballspiele“. „Ungewöhnlich“ ist jetzt erst einmal nicht so präzise. Was macht ein Spiel für Sie „ungewöhnlich“? Was waren die Kriterien, um es in die Sammlung schaffen?
Ich habe nach „Vorkommnissen“ gesucht, die auf irgendeine Art absurd, verrückt, kurios, skurril, bizarr waren, Dinge, die kaum vorstellbar sind und damit in der Regel auch große Unterhaltung garantieren. Ich möchte meine Leserschaft immer fesseln. Und wenn das Begegnungen sind, die nahezu unbekannt sind, um so besser.

Die Sammlung enthält sprichwörtlich auch Spiele aus dem hintersten Winkel der Erde, die bestimmt keine Erwähnung im „kicker“ gefunden haben. Wie haben Sie die zum Teil doch sehr exotischen Begegnungen recherchiert?
Einerseits habe ich sehr viele Bücher gesichtet, das in mehreren Sprachen, wodurch entsprechend auch Übersetzungen notwendig waren. Viel wichtiger war aber die Recherche im Internet. Ich hatte beispielsweise knapp über 20 Stichwörter in zwölf Sprachen übersetzt und in Google eingegeben. Dann benötigt man auch ein Näschen, um auf Internetseiten in fremden Sprachen vielleicht fündig zu werden. Letztlich sucht man über viele Tage und freut sich dann unheimlich, wenn man am zehnten Tag einen kleinen Schatz findet. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich mal Übersetzungen aus dem Indonesischen durchführe, und das mit Erfolg. Aufhänger waren auch noch viele mehr Stichwörter auf einer großen Statistikseite, die alle Länder der Welt bis vielleicht zur jeweiligen 3. Liga über Jahrzehnte zurück abdeckt. Und hinter einem Treffer mit der Kombination „Referee protest“ verbirgt sich plötzlich eine ganz andere Geschichte um einen Fall, den man nicht erfinden kann, weil er so irrsinnig ist.

Sie begnügen sich ja nicht mit einer dürren Faktenwiedergabe oder reinen Beschreibung der Vorfälle. Was war Ihnen wichtig, den Lesern beim Erzählen der Geschichten zu vermitteln?
Um etwas Ungewöhnliches zu präsentieren, kann man natürlich die wesentlichen „Fakten“ in einen knappen Absatz pressen – doch das ist viel zu schade. Die gewählten Spiele geben viel mehr her. Wer tiefer gräbt, der fördert häufig noch viele interessante Aspekte zutage, die die Geschichte noch außergewöhnlicher macht. Und so sind meine Berichte rund und lassen noch viel mehr Erstaunen zu.

Zu den meisten ausführlich vorgestellten Spielen gibt es noch weitere ähnlich gelagerte Vorfälle und dazwischen immer mal sogenannte Einwürfe. Welche Funktionen haben diese Einwürfe?
Es gibt viele bemerkenswerte Vorfälle über jene von mir besonders präsentierten Partien hinaus. Fast jeder andere Autor hätte diese wahrscheinlich bei so einem Buchprojekt unter den Tisch fallen lassen. Mein Ansatz ist ein anderer: Wenn solche Vorfälle einfach zu schade sind, auf sie zu verzichten, weil sie eben auch überraschen, dann habe ich sie Spielen zugeordnet, die zu dem „Thema“ eines Spiel passen, aber auch völlig anders sein können. Das sieht dann so aus, dass ich nach dem eigentlichen Text in dem Kapitel nach dem Motto „Und dann war da noch…“ anfüge.
Es gibt – verteilt über Band 1 und 2 – insgesamt elf „Einwürfe“, mit denen ich das Konzept der Präsentation von Begegnungen kurz verlasse und jeweils zu einem Thema wie Spielabsagen, Spielabbrüchen, Elfmeter oder Wettbewerbsregeln in Kürze ungewöhnliche Vorkommnisse aufzeige.

Nachdem Sie das Buch fertiggeschrieben hatten und noch einmal das Manuskript gegengelesen haben: Welches Bild vom Fußball des 20. Jahrhunderts ist da bei Ihnen entstanden oder hängengeblieben? Lässt sich das auf einen Nenner bringen? Was macht den Fußball vielleicht auch vor dem Hintergrund der Geschichten, die Sie geschrieben haben, weltweit so besonders?
Ich werde im Herbst auf eine Lesereihe gehen. Hierfür überlegt man sich, wie man die potentiellen ZuhörerInnen erreicht. Viele Menschen haben mit Fußball nichts zu tun und würden nie daran denken, zu solch einer Lesung zu gehen. Dabei sind ein Großteil dieser Geschichten irgendwie Geschichten, die das Leben geschrieben hat, für die man keine Ahnung von Fußball haben muss. Es geht alleine in Band 1 eben auch um aufgeflogene Spionage, Betrug, Mut, auch mal Treterei, Dummheiten, Manipulation, Märchen, Unglaube, UFO-Alarm, Aufstand gegen Besatzer, Irrglaube, Streik, Schauspielerei, Ohnmacht, Bedrohung, Flucht und Zirkus.
Die bisherige Antwort passt noch nicht ganz zur Frage. Ich könnte auch sagen, dass der Fußball so eine unglaubliche Bandbreite von unvorstellbaren Dingen bietet. Ich habe sie für die LeserInnen herausgesucht. Und auf das Ergebnis kann ich stolz sein, weil ich absolut überzeugt bin, dass man beim Lesern nicht aus dem Staunen herauskommt.

Band 1 umfasst 55 Hauptspiele aus den Jahren 1908 bis 1999. Band 2 ist in Vorbereitung, soll im Frühjahr 2025 erscheinen (jetzt schon zum Subkriptionspreis vorbestellbar!) und wird die Jahre ab der Jahrtausendwende umfassen. War es für die letzten 20 Jahre, in denen der Fußball zumindest aus unserer west- und mitteleuropäischer Warte komplett durchorganisiert, kommerzialisiert und medial total überwacht ist, eigentlich schwieriger, skurrile Ereignisse zu finden?
Eine Schwierigkeit ist, dass früher weniger oder gar nicht über kuriose Vorfälle berichtet wurde. Was nicht festgehalten wurde, kann nicht gefunden werden. Diese Geschichten sind einfach verloren. Mit dem Fortschritt ist die Dokumentation besser geworden. Heute kann ich Google Alerts mit Stichwörtern hinterlegen, zu denen wenigstens einmal in der Woche eine Liste an Links hierzu geschickt wird. Ich zweifle, dass ich zu anderen Sportarten ähnlich viele Vorfälle gefunden hätte. Auch das unterstreicht, dass der Fußball der beliebteste Sport auf dieser Welt ist.
In diesem neuen Jahrtausend haben die Veränderungen im Fußball auch neue Vorfälle ermöglicht, die ich für Band 1 wohl noch nicht hätte finden können – ob es ein geplanter Spielbeginn nach Mitternacht ist, der VAR, eine Dokumentation in Youtube, die Folgeerscheinungen hat, Lucky Loser, Vereinspokalspiele mit einer Anreise von über 15.000 Kilometer.

Okay, wenig originelle Frage zum Schluss, aber Sie muss natürlich sein: Was ist Ihre Lieblingsstory aus Band 1?
Das ist total schwer. Dafür gibt es einfach zu viel Verrücktes, ob das Nebelspiel, das 1940 in Edinburgh schon 15 Minuten beendet war, als der BBC-Reporter immer noch ein aktuelles Spielgeschehen erfand und ein letzter Spieler über den Platz irrte und seine längst geduschten Mitspieler suchte. Oder das berühmteste der unglaublichen Spiele von 1994 in Barbados, als die Gegner regelgerecht um Eigentore kämpften. Vielleicht ist meine Lieblingsstory aber jene des algerischen Meisters, der am letzten Spieltag noch um die Vizemeisterschaft kämpft, aber an diesem Tag sportlich absteigt und noch im gleichen Jahr (!) die Fußballkrone von Afrika trägt. Und das ist ja nur Band 1.

Vielen Dank für das Gespräch!

Jörg Heinisch  ist seit 1994 Mitherausgeber der unabhängigen Eintracht-Frankfurt-Fanzeitung “Fan geht vor“. Er hat zahlreiche Bücher zur Historie von Eintracht Frankfurt, zur Fankultur und zum Groundhopping, aber auch zu allgemeinen Fußballthemen veröffentlicht. Im Arete Verlag ist von ihm zuletzt das fesselnde Buch „Fußballkatastrophen: Tragödien, Schicksale und skandalöse Verschleierungen“ erschienen.