Von Kathrine Switzer

(Vorreiterin der Frauenlaufbewegung)

(zugleich Geleitwort zu “Running forever: Wie Frauen zu lebenslangen Läuferinnen werden”)

Einige Frauen finden die Antwort, wenn sie 12 Jahre alt sind.
Andere, wenn sie 72 Jahre alt sind.
Wer nicht läuft, wird es nie wissen.

Wann immer Frauen diesen ersten Schritt machen, wollen sie auch den nächsten Schritt machen. Und den nächsten. Sie beginnen zu laufen und werden durch den Prozess verändert. Dieser Prozess wirkt sich positiv auf alles andere aus, was sie im Leben tun.

Sicher, es gibt wissenschaftliche Gründe, warum diese Veränderung stattfindet, und wahrscheinlich wird dieses Buch einige erklären. Ich selbst bin mit einer großen Antwort zufrieden: Es passiert, weil es Magie ist.

Als ich eine dünne, vorpubertäre 12-Jährige war, sagte ich meinem Vater, dass ich Cheerleader werden wollte, wenn ich im nächsten Jahr auf die High School gehen würde. Mein Vater war ein ziemlich konservativer Mann, aber er konnte erkennen, dass ich diese Wahl aus dem gleichen Grund getroffen hatte, aus dem alle Kinder manche Entscheidungen treffen: Ich wollte hübsch, beliebt und akzeptiert sein.

Also sagte er: „Das willst du nicht wirklich machen, Liebling. Cheerleader jubeln anderen Leuten zu. Du willst aber, dass die Leute für dich jubeln! Im Leben geht es ums Mitmachen, nicht ums Zuschauen.“ Bevor ich Zeit hatte, enttäuscht zu sein, sagte er, meine Schule habe eine neue Sportart für Mädchen namens Feldhockey; er wusste, dass es dabei ums Laufen ging und dass es viel mehr Spaß machen würde, Teil eines Teams als ein blöder Zuschauer zu sein. Er sagte, ich müsse trainieren, um es ins Team zu schaffen, indem ich mindestens einen Kilometer am Tag laufe, und wenn ich dies täte, wäre ich eine der besten Spielerinnen im Team! Er zeigte mir, wie man anfängt, und machte mir die Aussicht sowohl freudvoll als auch herausfordernd.

Ich lief den Kilometer jeden Tag, ich wurde für das Team ausgewählt, und ich war das glücklichste Mädchen der Welt. Ich liebte mein Team. Aber ich bin weiterhin diesen Kilometer am Tag gelaufen, ohne jemandem davon zu erzählen. Noch mehr als das Feldhockey war es das Laufen selbst, das mir meine Kraft gab. Das war der Sieg, den ich jeden Tag in der Tasche hatte, den mir niemand wegnehmen konnte. Wenn ich mit der Angst und Nervosität meines Teenager-Daseins konfrontiert war, konnte ich dennoch furchtlos Entscheidungen treffen. Weil ich lief, hatte ich die Magie auf meiner Seite.

Jetzt bin ich 74 Jahre alt und seit 62 Jahren am Laufen. Und jeden Tag, an dem ich gelaufen bin, habe ich die Magie dabeigehabt. Jedes neue Lebensjahrzehnt habe ich Dinge geschafft, die ich die zehn Jahre zuvor nicht für möglich gehalten hatte, und das, weil ich fühlte, dass ich alles erreichen konnte, solange ich lief. Tatsächlich, die ganze Wahrheit ist, dass das Laufen für mich über das Gefühl von Leistung hinausgeht; es hat mir alles gegeben: meine Gesundheit, Karriere, Selbstvertrauen, Kreativität, Religion, Liebe, Freiheit und Furchtlosigkeit. Vor allem aber hat mir das Laufen mich selbst gegeben. Im Gegenzug habe ich ihm meine volle Dankbarkeit gegeben; in der Tat habe ich ihm mein Leben geschenkt.

Vor 40 Jahren lernte ich eine wunderbare Frau namens Ruth Rothfarb kennen, die 72 Jahre alt war. Sie hatte ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet und nun endlich beschlossen, in den Ruhestand zu gehen und in einer Seniorengemeinschaft zu leben. Es langweilte sie, mit allen über das Alter zu reden, und beschloss eines Tages, mit ihrem 45-jährigen Sohn joggen zu gehen. Sie liebte es und begann, jeden Tag zu joggen. Bald schon lief sie in kleine Rennen. Mit 81 lief sie ihren ersten Marathon und lief weiter, bis sie mit 94 Jahren starb. Sie sagte immer, dass das Laufen ihr mehr als alles andere in ihrem Leben das Gefühl von Kraft und Freiheit gegeben habe, das sie immer wollte, und dass, obwohl es eine späte Entdeckung ihres Lebens war, das Laufen ihr die besten Jahre ihres Lebens bescherte. Wie wir alle war sie dankbar.

Ruth und ich waren ganz gewöhnliche Frauen. Aber wenn gewöhnliche Frauen laufen, werden sie außergewöhnlich. Das liegt daran, dass das Laufen für Frauen verändernd ist; es wirkt sofort verstärkend. Das ist die Geschichte dieses Buches: Wie gewöhnliche Mädchen und Frauen liefen, gestärkt wurden und das Unmögliche erreichten.

Die Geschichten hier erzählen davon, wie ein bescheidener Kilometer pro Tag zum Marathon wurde, und vielleicht, wie man Weltmeister wurde oder sich zumindest wie ein Weltmeister fühlte, als man mit dem Rauchen aufhörte, 25 Kilo abnahm, die Jungfrau hochlief und dem rücksichtslosen Partner den Laufpass gaben. Darüber, wie man beschloss, die Vergangenheit wegzuwerfen, neu anzufangen, die Ausbildung zu beenden, einen angemessenen Job zu bekommen und eine bessere Mutter zu sein. Und wie man den ganzen Krempel aus der eigenen Vergangenheit sowieso nicht mehr haben wollte. Und wie eine virtuelle Armee von Frauen zum Laufen gebracht wurde, bei dem es nicht mehr wirklich darum geht, zu laufen, sondern darum, unser Leben zu verändern. Gemeinsam haben wir eine soziale Revolution geschaffen. Millionen von Frauen laufen jetzt, Millionen weitere fangen an, und Millionen von uns werden niemals aufhören.

Das sind wir! Wir sind außergewöhnlich. Wir haben die Kraft und die Magie und gemeinsam verändern wir die Welt. Schritt für Schritt, allein und gemeinsam, begrüßen wir Sie auf der größten Reise Ihres Lebens.

Kathrine V. Switzer, geb. 1947, US-Amerikanerin, schrieb Sportgeschichte, als sie 1967 als erste Frau offiziell am Boston-Marathon teilnahm. 1972 organisierte sie den ersten reinen Frauenlauf in New York, 1978 die erste inoffizielle Marathon-WM für Frauen in Atlanta. 1977 überzeugte sie die Kosmetikfirma „Avon“ mit dem Konzept einer internationalen Frauenlaufserie. Sie leitete die Kampagne zur Anerkennung des Frauen-Marathons als olympische Disziplin und gründete die Organisation „261 Fearless“. Sie wirkt als Rednerin, TV- und Radio-Kommentatorin und wurde für ihre Sportberichterstattung u. a. mit dem Emmy Award ausgezeichnet. Ihre Bücher „Marathon Woman“ (2007) und „Running And Walking For Women Over 40“ (1998) wurden internationale Bestseller.