Der VfL Bochum ist nach über zehn Jahren wieder in die 1. Bundesliga aufgestiegen.

Unser Autor Gerrit Lenssen, seit seiner Kindheit Fan von VfL Bochum, fühlt sich angesichts des Aufstiegs seiner Lieblingsmannschaft während der Corona-Krise zwiegespalten:

Aufsteigen 2021 – Dr. Jekyll & Mr. Hyde

8. Mai 2010, 17:19 Uhr. Es ist besiegelt. Beziehungsweise ist es schon seit gut einer Stunde besiegelt, um ganz ehrlich zu sein. Denn nachdem wir in der 45. Minute beim Stande von 0:2 eine kurze Ecke spielen – ich wiederhole: eine kurze Ecke in der 45. Minute beim Stande von 0:2 –, in grotesker Manier den Ball verlieren, fünf Hannoveraner auf zwei Bochumer zulaufen und einen perfekten Konter zum 0:3 abschließen, ist die Sache schon entschieden. Siebzehnter nach 34 Spieltagen. Der Abstieg. Am Spielstand hat sich bis jetzt, als der Schiedsrichter die Partie abpfeift, nichts verändert. Nur ist es nun auch offiziell. Ich bin 14 Jahre alt und sitze in Block M neben meinem Vater. Blicke nach rechts zur roten Wand aus gut Zehntausend feiernden 96ern. Dann nach links zur Ostkurve, in der sich traurige Szenen abspielen. Die einen verbrennen ihre Fahnen, einige wenige entern wutgeladen das Spielfeld. Die anderen haben das Haupt gesenkt, weinen in ihre Schals oder in die Klamotten ihrer Nebenmenschen. In einer Mischung aus all diesen Emotionen packe ich mir mit Tränen in den Augen das vor dem Spiel ausgehändigte Motto-Shirt – „Gestern, heute, morgen“ steht darauf – und werfe es demonstrativ Richtung Platz. Sieht vielleicht lächerlich aus, wie ich das mit meinen vierzig Kilo auf 1,55 tue, aber das ist doch jetzt auch vollkommen egal. Im Anschluss verlassen wir das Ruhrstadion nach dem sogleich bittersten wie eben auch vorerst letzten Bundesligaspiels unseres Vereins.
Am späten Abend stehe ich unter der Dusche und rekapituliere die Saison. Hat mit einem 3:3 nach 0:3-Rückstand gegen Mönchengladbach furios begonnen. Ging zwar nicht allzu positiv weiter, aber ein erfolgreicher Winter sorgt für Ruhe. Nach Spieltag 24 neun Punkte vor dem Relegationsplatz, das Thema Abstiegskampf erst einmal ad acta gelegt. Dann jedoch dieser beispiellos schleichende Absturz mit einem, ja einem (!), Punkt aus den restlichen zehn Spielen. Schließlich dieses scheiß Ende heute. Was eine Nichtleistung zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Und trotzdem. Trotzdem bereue ich schon jetzt, das Shirt eben vor lauter Frust, Verzweiflung, Verbitterung weggeworfen zu haben. Blicke trotz der Enttäuschung positiv nach vorne. Und sage mir – gerade den Duschkopf wieder eingehängt und zum Handtuch greifend – diese zwei Sätze, die mich sehr, sehr lange begleiten sollten: „Ein Jahr durch diese zweite Liga und wir sind wieder zurück! Und dann wirst du auf dem Rasen des Ruhrstadions liegen und mit 25.000 Leidensgenossen die Rückkehr feiern!“

Zeitsprung. 23. Mai 2021. Wir schreiben also elf Jahre nach Hannover. Elf Jahre nach Bruggink, Hanke, Pinto. Elf Jahre nach den brennenden Fahnen, den trauernden Menschen, dem weggeschmissenen Shirt. Damals war ich wie gesagt 14 und ging in die achte Klasse. Dinge, die sehr präsent waren: Unreinheiten, Unmengen Haargel, Tafeldienst, Rechtschreibtests, Mathe-Nachhilfe, Roller Coaster Tycoon 3, Kirmesgeld, Süß-Tüten „selbstgemischt“, den ganzen Sommer im Freibad verbringen. Dinge, zu denen dagegen noch nicht der Hauch eines Kontaktes bestand: Discotheken, Kneipen, Universitäten, Frauen, Versicherungen, Bürokratie, Alkohol, Bartwuchs. Man diskutierte über Turniere in Südafrika und Brasilien, Pauli und Lautern stiegen in die erste Liga auf, Schalke wurde Zweiter, RB Leipzig kickte in der Oberliga Nordost, Diego Milito schoss Inter Mailand zum Champions-League-Titel. An seiner Seite im Übrigen Legenden wie Walter Samuel oder Esteban Cambiasso. Bei Finalgegner Bayern unter anderem auf dem Feld: Martin Demichelis, Mark van Bommel, Hamit Altintop, Ivica Olic. Und wenn ich schon einmal dabei bin: Noch in der Bundesliga aktiv waren Koryphäen wie Levan Kobiashvili, David Jarolim, Jonathan Pitroipa, Yildiray Bastürk, Rob Friend, Jan Simak, Javier Pinola, Andreas Beck, Dimitar Rangelov, Tranquillo Barnetta oder Stefan Reisinger. Diego Klimowicz ging für uns auf „Torejagd“, heute tut es sein Sohn Mateo für den VfB. Jupp Heynckes trainierte Bayer 04 Leverkusen, Thomas Tuchel Mainz 05, Zvonomir Soldo den 1. FC Köln, Michael Oenning den 1. FCN und – logisch – Lorenz-Günther Köstner folgte auf Armin Veh in Wolfsburg. Christian Streich war indes noch nicht Cheftrainer in Freiburg.
Aber ich verliere mich. Nun bin ich jedenfalls 25 Jahre alt und könnte Frau, Haus und Kinder haben, ohne dass dies komisch oder völlig unüblich wäre. Also so rein theoretisch zumindest. Über ein Jahrzehnt zweite Liga liegt hinter mir. Die verlorene Relegation 2011. Der nur um Haaresbreite verhinderte Sinkflug in die Drittklassigkeit 2013. Aufkeimende Hoffnung auf bessere Zeiten, die von einer unnötigen 0:1-Heimniederlage wahlweise gegen den VfR Aalen, den 1. FC Heidenheim oder Jahn Regensburg auf die schlimmstmögliche Tour zerschlagen wird. Wieder und wieder. Resignieren im seelenlosen Ingolstadt, Sonnenbrand im nicht überdachten Gästeblock von Darmstadt, Zugausfall und notdürftige Übernachtung in Braunschweig, verschollen und vor allem ohne Punkte im Gepäck auf der Reeperbahn. „Für uns leuchten deine Farben auch in dunklen Tagen hell!“ Jaja, schon klar, aber zur Pause 0:3 gegen Fucking Wehen Wiesbaden zurückliegen ist dann auch nicht so geil. Derweil die Erlebnisse der Freunde hören: Andi feiert zwei deutsche Meisterschaften und steht mit 30.000 Schwarz-Gelben im Londoner Wembleystadion. Simon tingelt mit der Frankfurter Eintracht quer durch Europa. Marcel besingt im ausverkauften Borussia Park die Renaissance seines Clubs. Das alles, während ich irgendwo im Nirgendwo am Sandhausener Bahnhof stehe und nichts, aber auch gar nichts daran erinnert, dass in diesem Ort in weniger als zwei Stunden ein Profi-Fußballspiel stattfindet. Auch im Shuttle-Bus – kurz vorm Stadion ja normalerweise randvoll – befinden sich keine zehn Menschen. Die meisten reisen mit dem Rad an, parken es zwei Meter vor dem Eingang und gehen gemütlich hinein, als handele es sich hier um ein Bezirksliga-Match. Nur mühselig finde ich durch Gassen und Wälder den Gästeblock, von dem aus der angrenzende Tenniscourt gut einsehbar ist. Auf Platz Eins nimmt ein Pärchen gerade augenscheinlich zum ersten Mal Trainerstunden, auf Platz Zwei geht dagegen ein hitziges Rentnerduell in den Tie-Break. Zwanzig Meter weiter der Anpfiff des Zweitligaduells und es folgen neunzig Minuten, in denen du dein biederes Team zusammen mit zweihundert anderen irgendwie zu einem lausigen 1:1 und zum zwischenzeitlichen 15. Tabellenplatz schreist. Quo vadis, VfL? Quo vadis, Gerrit? Einzige Antwort: „Für uns leuchten deine Farben auch in dunklen Tagen hell …“
Doch dann, dann wenn du wirklich nur noch ganz vage, in der hintersten Ecke deines Kopfes dran glaubst, dann kommt sie also doch noch: diese eine Saison, in der einfach alles passt. Diese eine Saison, von der man seit dem Abstieg geträumt hat. Für die man Teams wie Braunschweig 2013, Paderborn 2014, Darmstadt 2016 oder auch Bielefeld 2020 bereits beneidet hat. Ja, diese eine Saison, in der ausgeglichene Spiele ausnahmsweise mal nicht noch unglücklich und bochumesk verloren oder höchstens Remis gespielt, sondern eiskalt gewonnen werden. In der man nach vermeidbarem Rückstand nicht in seine Einzelteile zusammenfällt, sondern sich aufrappelt und Spiele dreht. In der man nach Niederlagen nicht in eine sagenhafte Negativserie gerät, sondern mit einem Dreier die sofortige Antwort parat hat. Ja, eine Saison, in der der Aufstieg schon früh in der Luft liegt und am 34. Spieltag, an besagtem 23. Mai 2021, schließlich unter Dach und Fach ist.
Mit anderen Worten: eine geniale Spielzeit. Ein Jahr, an das wir uns noch in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren erinnern werden und für das sich all die bitteren Erlebnisse, all die Niederlagen und all die umsonst zurückgelegten Kilometer gelohnt haben. Aber stopp mal kurz?! Moment mal. Ich falle nicht auf dem Rasen des Ruhrstadions. Stand keinmal frühmorgens auf, um gegen zehn Uhr den ersten Zug zu nehmen und bis zur Ankunft am Bochumer Hauptbahnhof zwei Liter Pils zu trinken – aus reiner Vorsorge selbstverständlich. Fand mich bei keinem einzigen Spiel im Knäuel der Ostkurve Block O wieder. Lag keinen wildfremden, bierüberschütteten Menschen in den Armen. Hatte bei keinem Torjubel die Ehre, Bier, Kippe und Freunde für den Augenblick der Ekstase zu verlieren. Musste keinmal in der 35. Minute dringend pinkeln und kam einfach nicht durch zum WC. Hatte nicht einmal die Gelegenheit, ein schallendes „Feierabend“ von mir zu geben, wenn der Schiedsrichter das Spiel in der Einundneunzigsten bei vier Minuten Nachspielzeit unverständlicherweise noch immer nicht abgepfiffen hat. Kann von keiner ausgedehnten, leicht eskalierenden Auswärtstour berichten. Stattdessen der heimische Hocker, den ich mir exakt fünf Minuten vor Anpfiff ebenso exakt einen Meter vor den Fernseher stelle, um auf gar keinen Fall etwas zu übersehen. Die zumeist analytische Verfolgung des Spiels. Seltene Tiraden über theatralische und/oder auf Zeit spielende Gegner hören allenfalls mein mir nur zunickender Vater und der wirr dreinschauende Appenzeller. Ohne großen Aufwand kann in der Halbzeit ein Pils erhascht werden. Tore und Siege werden in aller Regel mit kurzer Erhebung und geballter Faust gefeiert – nur in Ausnahmefällen kommt es in klassischer Mourinho-Manier zum Knie-Rutscher durchs Wohnzimmer.

Keine Frage: Geisterspiele waren 20/21 alternativlos und der Stolz auf den Verein ist auch von Zuhause aus groß wie lange nicht, auch hier ist der ein oder andere Gänsehautmoment entstanden. Gleichwohl sind eben unglaublich viele Emotionen auf der Strecke geblieben. Das Gefühl, so richtig dabei zu sein, Teil von etwas zu sein, es fehlt ausgerechnet jetzt. „Rückkehr nach elf Jahren und dann auch noch mit Schalke die Ligen tauschen. Glücklicher kann man doch nicht sein?!“, habe ich zuletzt von verschiedenen Seiten gehört. Doch so einfach ist es leider nicht, vielmehr eine Art Zerrissenheit inmitten des Sieges, Dr. Jekyll & Mr. Hyde! Ja, eine Saison, die einmal mehr zeigt: Einzig und allein der verdammte Fußball kann so sein – so wunderbar und mies zugleich!
Ach ja, und Sandhausen: Irgendwo tief in mir werde ich dich auch vermissen …

Gerrit Lenssen spielt selbst höherklassig Fußball beim SSV Grefrath. Im Arete Verlag ist von ihm das Buch “Himmel – Hölle – Fußball” erschienen.