Jörg Heinisch erzählt in seinem „Buch der ungewöhnlichen Fußballspiele“ viele unglaubliche Stories, aber diese …
Das Tor des Gandula
Santacruzense – Atlético Sorocaba
Copa Federação Paulista de Futebol, Santa Cruz do Rio Pardo, Brasilien 2006
Der 51-jährige José Carlos Vieira – nennen wir ihn hier Carlos – verdiente sein Geld als Schuster, umgerechnet 220 Euro im Monat. Sein Stolz war ein blaues, immer gut geputztes Moped. Gerne wäre er selbst Profifußballer geworden, doch dafür reichte es nicht. Trotzdem war er bei den Heimspielen seines Klubs Santacruzense in Santa Cruz do Rio Pardo, einer Stadt rund 300 Kilometer von São Paulo entfernt, als verlässlicher Mitarbeiter dabei – als Balljunge („Gandula“ genannt), ein Job der in Brasilien für Minderjährige verboten ist. Seit über 20 Jahren hat er sich in seine Rolle gefügt. Faxen hatte sich Carlos, der ein bekannter Mann in der Stadt und mit dem Vereinspräsidenten per du war, nie erlaubt. Doch das sollte sich am 10. September 2006 ändern, als Atlético Sorocaba zu Gast war. Zu dem Spiel des Drittligisten im Staatspokal kamen über 5.000 Zuschauer. Carlos nahm wie immer seine Position in grünem Hemd und mit Baseballkappe hinter einem Tor ein.
Atlético führte mit 1:0, die Fans des Gastgebers hofften noch auf den Ausgleich, als die auch international eingesetzte Schiedsrichterin Sílvia Regina de Oliveira in der 89. Spielminute einen Freistoß für Santacruzense gab. Über die rechte Seite trieb Vega den Ball nach vorne. Er passte zu Samuel, der auf das Tor schoss. Der Ball ging am Kasten vorbei und prallte von außen gegen das Netz und rollte noch ein wenig weiter. Die Fankurve von Santacruzense war enttäuscht und blieb still; die Radioreporter berichteten, dass der Schuss am Tor vorbeiging. Die Spieler beider Mannschaften orientierten sich wieder weg vom Tor und erwarteten den Abstoß. Die Schiedsrichterin, die den Schuss nicht gesehen hatte, blickte kurz zu ihrem Assistenten (Marco Antônio de Andrade Motta Júnior), der schlecht stand und bereits zur Mittellinie lief.
In diesem Moment trat Carlos in Aktion. Der Balljunge schob das Leder zurück ins Spielfeld, trat gegen es, woraufhin dieser am Pfosten vorbei in einer leichten Kurve hinter der Torlinie liegen blieb. Die Schiedsrichterin lief zurück zum Strafraum und sah plötzlich den Ball im Tor liegen. Während Carlos längst wieder ruhig hinter dem Tor stand und herumliegende Bälle ordnete, wurde die Unparteiische, die noch nach einem Loch im Netz suchte, von Atléticos Abwehrspielern umringt. Nachdem sie sich der Spieler erwehrt hatte und vom Assistenten bestätigen ließ, dass er das Tor gesehen habe, entschied sie auf Tor. 1:1! Die Gästespieler protestierten, die Radioreporter gerieten in Aufregung. „Ich habe geschossen, ob die Schiedsrichterin das Tor gegeben hat, ist nicht unser Problem“, wollte sich Stürmer Samuel gegenüber Radio Nova Difusora rechtfertigen. Carlos war sich keines Unrechts bewusst und ging nach Hause.
Am nächsten Morgen hatte sich die Situation geändert. Die Aufzeichnung des Spiels war im Fernsehen ausgestrahlt worden. Carlos war nun DAS Thema im Land. Die Reporter riefen bei ihm an. Und er meinte nur, dass er sich über den Torwart des Gegners lustig machen wollte und ihm „Hey, da ist wohl ein Loch im Netz“ zugerufen hätte. Kinder fragten ihn nach Autogrammen, der Vereinspräsident freute sich mit ihm. Doch nachdem sich der Fußballverband einschaltete, gab es Strafen. Santacruzense musste umgerechnet 18.000 Euro zahlen. Schiedsrichterin Sílvia Regina de Oliveira sagte aus: „Zum Zeitpunkt des Abstoßes hatte ich Zweifel und wandte mich an meinen Assistenten. Da er in die Mitte des Feldes gelaufen war, beschloss ich zu prüfen, ob das Netz kaputt war. Ich habe kurz nachgeschaut und beschlossen, mich an seine Entscheidung zu halten.“ Sie wurde für 15 Tage suspendiert, der Assistent für 30 Tage. Gandula Carlos, der zum Spieler des Jahres (!) gewählt wurde, durfte fortan nicht mehr als Balljunge eingesetzt werden. Mit der Strafe für den Verein fiel der Heldenstatus – nun traf ihn der Zorn der Anhänger und Funktionäre. Nun musste er sich seine Tickets selber kaufen. Er wählte nun immer einen Platz hoch oben auf der Tribüne, wo er sich nicht beschimpfen lassen musste.
Das Endergebnis blieb mit 1:1 bestehen, da es sich um eine Tatsachenentscheidung gehandelt hatte.
Videoimpressionen:
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Entnommen aus dem „Buch der ungewöhnlichen Fußballspiele. Band 2: ab 2000“ von Jörg Heinisch; erhältlich im Buchhandel und im Arete-Shop.