Jörg Heinisch hat das Buch „Fußballkatastrophen“ geschrieben. Hier erzählt er eine fast unbekannte Geschichte.

Medellín, Kolumbien, 22. Mai 1994
Der Bombenanschlag auf Eintracht Frankfurt mit sechs toten Polizisten
von Jörg Heinisch

In der folgenden Geschichte geht es um die Frankfurter Eintracht und einen der größten Drogenhändler, die die Welt je gesehen hat – er war zu dieser Zeit der am meisten gesuchteste Verbrecher und eine der reichsten Personen der Welt. Die Ereignisse vom Mai 1994 sind hierzulande relativ unbekannt, obwohl es Tote gab und auch fast die gesamte Mannschaft der Eintracht hätte getötet werden können. Noch nie gehört oder nur dunkel in Erinnerung? Hier wird die unglaubliche Story erstmals ausführlich erzählt …

Die Vorgeschichte
1993 bekämpften sich in Kolumbien die rivalisierenden Drogenkartelle in extremster Weise. Pablo Escobar, Chef des Medellín-Kartells, das sich mit dem Cali-Kartell bekriegte, sorgte sich um seine Familie. Er wollte sie vor den Killern der Konkurrenz in Sicherheit bringen. Escobar ließ seine Frau, seine neunjährige Tochter, seinen 16-jährgen Sohn und dessen 23 Jahre alte Verlobte nach Deutschland ausfliegen. Nach ihrer Ankunft in Frankfurt am 28. November 1993 wollte die Familie einen Aufenthaltsstatus in Deutschland beantragen. Doch das bundesdeutsche Innenministerium erklärte das Quartett kurzerhand zu unerwünschten Personen. Die Regierung wollte in jedem Fall vermeiden, dass sich der Drogenkrieg auf Deutschland ausweiten könnte. Die Familie musste noch am selben Abend zurückfliegen, was Pablo Escobar hochgradig verärgerte. Bei einem Radiosender beschwerte er sich erregt, wie die Deutschen mit seiner Familie umgegangen seien. Aus seinem Versteck in Medellín telefonierte er immer wieder und wurde dabei unvorsichtig, was ihm letztlich zum Verhängnis wurde. Er wurde von US-Drogenfahndern abgehört. Eine 50-köpfige Einsatztruppe von kolumbianischen und US-Kräften stellte und erschoss ihn am 2. Dezember beim Versuch, zu flüchten. 10.000 Sympathisanten erschienen am Tag darauf zu seiner von der Regierung schnell durchgeführten Beerdigung. Escobar hatte Krankenhäuser, Sozialwohnungen und Schulen finanziert und genoss daher unter dem ärmsten Teil der Bevölkerung seiner Heimatstadt Medellín vielfach einen guten Ruf.

Die Einladung
Vor der Weltmeisterschaft 1994 in den USA, für die die Kolumbianer große Ziele hatten, hatte die Nationalmannschaft des Landes um Stars wie Carlos Valderrama zahlreiche Länderspiele absolviert. Für Pfingsten, also kurz vor Beginn des Turniers, hatte sie Borussia Dortmund zu einem Testspiel nach Medellín eingeladen. Als die Westfalen von der geplanten Reise aber zurücktraten, wurde Ersatz gesucht und in Eintracht Frankfurt gefunden. 100.000 DM sollten die Hessen für den „Ausflug“ in den Nordwesten Südamerikas zwei Wochen nach dem Ende der Bundesligasaison erhalten. Bedenken wegen des nicht unbedingt sicheren Zielortes und der Lage von immerhin 1.538 Höhenmetern gab es beim Bundesligafünften keine. Das Geld zählte.
14 Spieler bestiegen das Flugzeug, die beim Spiel gegen die kolumbianische Nationalmannschaft auch alle zum Einsatz kamen: Thomas Ernst, Manfred Binz, Kachabar Zchadadse, Uwe Bindewald, Burhanetin Kaymak, Frank Möller, Slobodan Komljenovic, Uwe Bein, Yeboah-Cousin Mike Osei, Mirko Dickhaut, Dirk Wolf, Anthony Yeboah, Jan Furtok und Matthias Becker. Ebenfalls an Bord waren Vizepräsident Bernd Hölzenbein, Betreuer Rainer Falkenhain sowie Masseur und Physiotherapeut Lutz Meinl. Präsident Matthias Ohms flog aus seinem Florida-Urlaub ein. Die Anreise dauerte mit Zwischenlandungen in Caracas (Venezuela) und Bogotá (Hauptstadt Kolumbiens), 16 Stunden, bis die Eintracht auf dem ca. 2.000 Meter hoch gelegenen Flughafen von Medellín ankam. Anschließend ging es mit dem Bus noch einmal über eine Höhenstraße etwa 500 Meter tiefer in die Stadt. Geschlaucht kamen die Frankfurter im Interconti Hotel an. Die Zeitumstellung und die Hitze taten ihr Übriges.

Das Spiel
Bis zum Spiel am folgenden Tag hatten sich die Spieler noch nicht wieder erholt. Schon vor dem Spiel wunderten sich die Spieler und Offiziellen über die vielen Soldaten im Stadion. Selbst in den Kabinengängen wimmelte es von Militär. Lutz Meinl meinte mir gegenüber später: „Wir konnten uns aber einfach nicht erklären, warum, haben gedacht, dass es hier normal wäre.“ 21.000 Zuschauer kamen am 22. Mai 1994 ins Stadion Atanasio Girardo. Für Uwe Bein sollte es das allerletzte Spiel im Eintracht-Trikot werden. Anfang Juli wechselte er nach Japan zu den Urawa Red Diamonds.
Was auf dem Spielfeld folgte, bezeichnete die kolumbianische Tageszeitung „El Tiempo“ am nächsten Tag als ein „concierto“, ein Konzert der Nationalmannschaft, bei dem die Menge auf den Rängen außer sich vor Freude war. Faustino Asprilla eröffnete den Torreigen in der ersten Spielminute und erzielte mit einem spektakulären Flugkopfball 15 Minuten vor dem Ende auch das Tor zum 4:0-Endstand für die Kolumbianer.
„El Tiempo“ schrieb: „Schon vor Ablauf der ersten Viertelstunde war die mangelnde Fitness der deutschen Spieler zu erkennen. Selbst Kapitän und Routinier Uwe Bein musste nach 36 Minuten um eine Auswechslung bitten, weil seine Lungen dem Tempo der Kolumbianer nicht mehr gewachsen waren.“ Grund für die Auswechslung war allerdings eine Prellung. Lutz Meinl: „Nur weil die Kolumbianer einen Gang zurückgeschaltet haben, blieb uns ein Debakel erspart. Als Uwe Bein ausgewechselt wurde, brachten ihn Soldaten mit Schutzschildern in die Kabine.“ Zu diesem Zeitpunkt lag die Eintracht bereits 0:2 zurück, nachdem Víctor Aristizábal in der fünften Minute das zweite kolumbianische Tor erzielt hatte. In der achten Spielminute hatte Dickhaut Asprilla zu Fall gebracht und damit einen Strafstoß verursacht. Freddy Rincón erzielte im Nachschuss den dritten Treffer, nachdem Ernst im Eintracht-Tor den Ball zunächst noch abwehren konnte. Die Kolumbianer sahen sich für die WM bestens gerüstet.

Die Aufstellungen beider Mannschaften:
Kolumbien: Córdoba; Herrera, Mendoza, Escobar und Pérez (Osorio); Rincón, Alvarez (Gaviria), Gómez und Valderrama (Lozano); Asprilla (De Avila) und Aristizábal (Valenciano) – Trainer: Juan Manuel Gómez.
Eintracht: Ernst; Bindewald, Binz und Tchadadze; Kaymak, Komljenovic, Dickhaut, Wolf und Bein (Osei); Yeboah und Furtok (Becker) – Trainer: Karl-Heinz Körbel.
(Für wen Frank Möller eingewechselt wurde, ist nicht dokumentiert.)

Videoimpressionen auf Youtube

Der Anschlag
Ohne dass es die Eintracht wusste, wurde es für sie nun ernsthaft gefährlich: „Nach dem Spiel bei der Rückkehr ins Hotel sahen wir dann, dass das Hotel komplett von Armeestreitkräften umstellt war. Wir haben dann von einem deutschen Manager der Hoechst AG erfahren, dass auf unseren Mannschaftsbus bei der Rückfahrt vom Stadion ein Anschlag verübt worden sei. Getroffen worden sei jedoch ein Polizeiauto hinter uns. Dabei habe es vier Tote gegeben.“
Es bliebe allerdings nicht bei vier Toten. Die spanische Zeitung „El País“ berichtete von einem furchtbaren Getöse um 19 Uhr Ortszeit, das an die blutigen Tage des Narkoterrors erinnerte: „Zwei Beamte und vier Polizisten im Streifenwagen 602 wurden nach ersten Ermittlungen durch die Explosionswelle von rund 600 Kilogramm Dynamit getötet, die per Fernsteuerung aus 100 Metern Entfernung gezündet wurde. Zehn weitere Beamte wurden bei dem Anschlag verletzt. Der Polizeichef von Medellín, General Luis Ernesto Gillibert, bezeichnete den Vorfall als eine weitere Episode des ‚15-jährigen Krieges‘ in der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, in der, wie er sagte, ‚die Polizei das einfachste Ziel ist, weil sie überall präsent sein muss‘.“

Lutz Meinl weiter: „Natürlich hat keiner von uns in der Nacht ein Auge zumachen können. Draußen hat man ständig den Funksprechverkehr des Militärs gehört. Panzerwagen fuhren hin und her. Am nächsten Morgen sollte unsere Maschine zurück nach Frankfurt gehen. Doch wie heil vom Hotel über die Serpentinen von Medellín zum 500 m höher gelegenen Flughafen kommen? Denn scheinbar war die Gefahr eines Anschlages auf uns noch nicht gebannt. Das Militär hat dann Armeehubschrauber geschickt. Mannschaft, Trainer und Betreuer wurden vom Hoteldach abgeholt und zum Flughafen gebracht.“ Nebeneinander saßen die Frankfurter in dem an der Seite offenen Fluggerät, nachdem man – ohne Gepäck – an der ungeschützten Dachkante eingestiegen war. Auch am Flughafen war die Aufregung groß, da man Angst hatte, jeden Moment könnte eine erneute Schießerei losgehen.

Erst in Deutschland erfuhr die Frankfurter Reisegesellschaft die Hintergründe des Anschlags. Noch einmal Lutz Meinl: „Medellíns Drogenboss Escobar war erschossen worden. Geortet wurde er wohl während eines abgehörten Telefongesprächs mit seiner Ehefrau. Diese war kurz zuvor am Frankfurter Flughafen zurückgewiesen worden, durfte nicht nach Deutschland einreisen und musste sofort den Heimflug nach Kolumbien antreten. Aus diesem Grund wollten sich Escobars Gefolgsleute vermutlich irgendwie an Frankfurt rächen, was ja auch fast gelungen wäre. Glauben Sie mir, ich habe viel erlebt in meinen 20 Jahren bei der Eintracht. Aber das war der Hammer. Der Schreck sitzt mir heute noch in den Gliedern.“

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Jörg Heinisch ist Autor mehrerer Bücher zu Eintracht Frankfurt und der Fankultur weltweit. Außerdem ist er seit 1994 Mitherausgeber der Frankfurt Fanzeitung „Fan geht vor“.