Marcus Pinsker erläutert im Vorwort seines Buches “Die Ziellinie ist irgendwo da draußen”, warum Laufen für ihn essentiell ist.

Die Säulen des Herakles. So nannte man in der Antike die beiden Berge, die auf dem europäischen und dem afrikanischen Kontinent die Straße von Gibraltar umfassten. Dahinter lag nur noch irgendwo das geheimnisvoll untergegangene Atlantis, von dem der Philosoph Platon berichtet hatte, „jenseits der Säulen des Herakles“. Aber die bekannte, die bewohnte Welt, die endete hier, am Ausgang des Mittelmeers. Herakles soll dort eine Inschrift angebracht haben. Non plus ultra. Nicht mehr weiter. Im Wappen Spaniens wurden die zwei Säulen des Herakles mit einem roten Spruchband verbunden und Kaiser Karl V. ließ plus ultra auf das Band schreiben. Die Grenzen wurden nicht länger akzeptiert, das Ende der unbekannten Welt wurde verschoben.
Plus ultra. Das beste Motto für einen Langstreckenläufer, das es gibt. Immer weiter. Und so laufen wir an Orten hinter den Grenzen, außerhalb der bewohnbaren Welt, an Orten, von wo es auf den ersten Blick nicht mehr weiter geht. Und weil Menschen das noch nie akzeptiert haben, geht es auch für uns eben doch immer wieder weiter. Immer weiter. „Auf das Ruder! Abfallen lassen, rund um die Welt!“, so rief Kapitän Ahab mit seiner Löwenstimme aus in Hermann Melvilles Moby Dick; oder: Der Wal. „Rund um die Welt! Da ist viel in diesem Klang, was stolze Gefühle hervorruft“, ergänzte Melville Ahabs Ausruf. Rund um die Welt, ist das nicht ein schöner, ein ewiger Traum? Und ob die Reise dann 80 Tage dauert oder ein paar Jahre ist egal. Heute wie in den Tagen von Jules Verne, Hermann Melville oder Ferdinand Magellan, der 1522 nach dreijähriger Odyssee als erster Weltumsegler nach Hause kehrte.
Die Geschichten in diesem Buch erzählen vom Laufen in arktischen Regionen und großen Städten, in Südafrika im Juni und an der Kieler Förde im Februar, im fernen Tasmanien wie im vergleichsweise nahen Mailand, von Mikroabenteuern und Begegnungen an den Enden der Welt. Und neben den äußeren Grenzen geht es immer auch um die eigenen, die inneren Grenzen, um selbstgesetzte Zielen und das ewige Streben, diese für sich selbst zu erreichen. Wir leben, weil wir laufen, und wir laufen, weil wir leben. Laufen ist ein Lebensstil, und wer es nur als lästigen Workout betrachtet, den man möglichst schnell und schmerzlos hinter sich bringen muss, verpasst das Wesentliche. Es geht um den Spaß und die Freude an der Bewegung, die Lust an jedem Atemzug, um jeden bewusst erfahrenen Moment, der uns zeigt, dass wir wirklich am Leben sind und dass wir frei sind. Frei zu laufen, wo immer wir wollen, wann immer wir wollen und so lange wir wollen.
Geht‘s raus und lauft, rufe ich, in leichter Abwandlung der berühmten Kabinenrede vor dem Fußball-WM-Finale 1990 von Kaiser Franz. Geht’s raus und lauft. Lauft schwerelos und unbeschwert und mit der Tiefengelassenheit, die vielleicht nur ein Langstreckenläufer dem Leben gegenüber entwickeln kann. Lauft durch die Stille der Wälder, Savannen und Wüsten, durch den Lärm der Städte und über die Felsen und das Eis der Berge, über warme Sandstrände und grüne Wiesen, über Tartanbahnen und Tierpfade. Und wenn es gar nicht anders geht, lauft auch auf dem Laufband. Hauptsache, du läufst, das ist immer mein Mantra gewesen in vielen Trainingsstunden. Hauptsache, du läufst.

In diesem Sinne. Marathon plus ultra. Viel Vergnügen beim Lesen und Laufen.

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Marcus Pinsker ist Professor für Neurochirurgie. Er ist Mitglied im „Seven Continents Club“ und assoziiertes Mitglied im „Grand Slam Club“ (Teilnahme an Marathons auf sieben Kontinenten und am Nordpol).
Im Arete Verlag ist von ihm bereits das Buch “Die unsichtbare Mauer – eine Grenzerfahrung” erschienen.