Der Fußball rollt momentan vor allem im Fernsehen.
Die Fans müssen fast überall draußen bleiben. Holger Hoeck macht sich darüber Gedanken, was dies für die Fans bedeutet und über ihren Stellenwert aussagt:
„Nicht zuschauen. Bitte weitergehen!“ Rigoros klang die Anweisung des Sicherheitsmitarbeiters an die zwei Personen, die sich mit gebührendem Abstand und sogar Maske an einem Eingangstor des Ulrich-Haberland-Stadions postiert hatten, um rudimentäre Einblicke auf das Spiel der Frauen-Bundesliga zwischen Bayer Leverkusen und Eintracht Frankfurt erhalten zu können. Die Überraschung: Obwohl sich die beiden auf einem öffentlichen Weg befanden und der Überwacher somit gar keine Befugnis für die Anordnung von Befehlen hatte, trollten sich die Zuseher und gingen ihrer Wege. Anscheinend zu eingeschüchtert und verängstigt nach über einem Jahr Pandemie mit einhergehenden Verboten und drohenden Strafen bei nicht-regelkonformen Verhalten haben auch viele Fußballinteressierte aufgegeben, auch nur dezenten Widerstand gegen willkürliche Erlasse zu leisten.
Seit rund einem Jahr rollt der Ball trotz Corona in den deutschen und europäischen Profiligen wieder und machen damit einfach so weiter wie immer. Da ist der TV-Moderator, der jede halbwegs gekonnte Ballstafette als Weltereignis aufschreiend bejubelt, da sind die Spieler, die sich nach Toren in die Fankurven zum Jubeln begeben und anschließend in Massen herzen. Und da sind auch auserwählte VIPs und besonders wertvolle Sponsoren, die auf den Tribünen das Spiel verfolgen. Abwesend sind jedoch die, die diesem Sport erst Leben einhauchen: Die Fans. Sie müssen draußen bleiben, denn Zuschauer sind in Corona-Zeiten nicht geduldet.
Relativ schnell hatte die DFL im Frühjahr 2020 ein Konzept entwickelt, das die Fortführung des Spielbetriebs unter Einhaltung von Hygiene- und Sicherheitsvorschriften ermöglichen sollte, und dank gut funktionierendem Lobbyismus zu den entsprechenden Regierungsverantwortlichen in Berlin durfte auch bald wieder gespielt werden. Und während Millionen Menschen ermahnt wurden, doch bitte schön zu Hause zu bleiben und auch weitestgehend von dort zu arbeiten, reisten die Profikicker durchs Land und Europa, um in verwaisten Stadien ihrer teuer bezahlten Arbeit nachzugehen.
Bis auf überschaubare Ausnahmen (also Spiele, wo zumindest vorübergehend die Anwesenheit von zumeist ausgelosten Zuschauern erlaubt war) bleiben dem ausgesperrten Fan seitdem nur wenige Möglichkeiten zum Ausleben seiner Leidenschaft. Viele haben sich tatsächlich entschieden, ein Abo für einen Bezahlsender abzuschließen, um sich somit Woche für Woche live in leere Stadien hinzuzuschalten, wo außer den Anweisungen von Trainern und Mitspielern sowie dem Dauer-Gesabbel der jeweiligen Moderatoren nichts zu hören ist. Andere fiebern auch der Sportschau und anderen Sportsendungen entgegen, um nach der spannenden (?) Radioübertragung aus verlassenen Arenen auch die Zusammenfassung in Bewegtbildern zu genießen (naja). Stetig wächst indes aber auch die Zahl der Fußballfans, die sich schon längst mit Schaudern angewidert von dieser Art Fußball abgewendet haben. „Das ist nicht mehr der Fußball, den ich mal geliebt habe“, „Wenn die meinen, ohne uns einfach weiterzuspielen, können sie das auch gerne in Zukunft“ oder „Das System Profifußball ist völlig krank“ sind nur einige Argumente, die Anhänger als Gründe ihrer Abkehr aufführen.
Schließlich bleibt den Fans als „persona non grata“ noch die Möglichkeit, als ungebetener Zaungast dem Spiel beizuwohnen, um wenigstens ansatzweise dem Erlebnis eines Live-Fußballspiels beiwohnen zu können. Hier zeigt sich dann der Charakter respektive die (Un-) Aufgeregtheit des gastgebenden Vereins, mit dieser besonderen Situation umzugehen: Während viele Vereine jeglichen Ärger mit DFL, DFB und den durchführenden Fußballverbänden unter allen Umständen vermeiden möchten und die oft ohnehin nur an einer Hand abzuzählenden Zuschauer verscheuchen respektive aus Gründen der „Sicherheitsgefährdung“ Polizei und/oder Ordnungsamt herbeirufen (die dann Platzverweise für maximal 90 Minuten ausrufen), reagieren andere Clubs eher fanfreundlich. Lobenswert erwähnt sei etwa der Bonner SC, wo Ordner mit biertrinkenden und mitunter mit Leitern ausstaffierte Zaungäste plaudern und auch die anwesenden Gesetzeshüter deeskalierend auftreten.
Doch auch innerhalb der Stadien ist der aktive Fußballkonsum kein wirkliches Vergnügen und birgt so manche Vorgaben, die wie jene hinter dem Zaun zumindest kritisch betrachtet werden können. Da ist etwa das ständige Tragen einer Maske, auch wenn sich überhaupt kein Sitznachbar im weiteren persönlichen Umfeld befindet (nach Meinung von Aerosolforschern finden 99 Prozent aller Infektionsübertragungen ja auch nicht im Freien statt). Wie im Europapokal kehren Ordner dem Spielgeschehen den Rücken zu und kontrollieren breitbeinig die Einhaltung der Maskenpflicht bei der überschaubaren Besucherschar auf den Tribünen- und Presseplätzen. Einer eigenartigen Logik unterliegen zudem bisweilen die Mitarbeiter der Live-Berichterstattung: So kommt es nicht selten vor, dass Fernsehreporter frei jeglicher Textilien drauflos schnattern dürfen, während der Lokalradio-Kollege drei Plätze weiter seine Schnute bedecken muss. Im Innenraum sitzen Betreuer und Mannschaftsärzte mit Masken neben unmaskierten Trainern, obwohl alle vor den Spielen gemeinsam getestet wurden. Bei der Platzwahl dient lediglich die Ghettofaust als Begrüßung zwischen Kapitänen und Schiris, bevor sich nach der ersten Rudelbildung ein Dutzend Spieler sehr, sehr nahekommt. Und dann gibt es noch die Stadionsprecher, denen es nicht zu blöd ist, ihr leeres Stadion mit exzessiven Torschreien oder lärmender Musik zu beschallen, als würden Zigtausende Fans die Ränge bevölkern. Die Show muss halt weitergehen – das erwarten wohl die Streamer und Sky-Abonnenten vor ihren Geräten. Ein Stück Normalität.
Aber ist dieser Fußball wirklich normal? Die überwiegende Mehrheit dürfte dies immer noch verneinen, auch wenn sich zweifellos viele Fernsehkonsumenten an die stillen Stadien schon gewöhnt haben und manche Kommentatoren es sogar als Vorteil preisen, dass man nun Trainer und Spieler besser verstehen kann. Sind Fans also gar ein störendes Element beim Genuss eines Spiels, die, aus Sicht mancher Vereinsverantwortlichen, das Spiel ohnehin häufig doch nur als Plattform für ihre Hassbotschaften und Schmähgesänge missbrauchen?
Es liegt eindeutig demnächst an den Fans selbst, dem Profifußball gegebenenfalls kritisch gegenüber zu treten und vielleicht sogar dessen heile Welt zu zerstören. Fans wären gut beraten, ihre eigene Rolle und auch ihre Macht, die jeder einzelne Fan unzweifelhaft hat, zu überprüfen. Was möchte also der Fan? Bleibt es beim blinden Gehorsam, etwa Dauerkarten ohne Gegenleistung aus Liebe und Solidarität zum Verein zu kaufen? Werden den Vereinen wieder die Tore eingerannt, sobald diese wieder aufgehen? Werden unkritisch alle Zugangskriterien wie etwa das Mitbringen eines Impfausweises oder die Schnelltestung am Stadioneingang mitgetragen? Geht ihnen das Herz auf, wenn exakt die Spieler ihres Vereins, denen es seit Monaten völlig schnuppe ist, ob Fans im Stadion sind, ein von der DFL oder dem DFB vorgefertigtes Spruchband demonstrativ zur Schau tragen, mit dem sie ihre ach so große Freude über die Rückkehr der Anhänger zum Ausdruck bringen? Oder wenden sich die Fans tatsächlich ab, verlagern ihre Fußballliebe in tiefere Spielklassen, oder suchen sich gleich andere Freizeitbeschäftigungen?
Aufgrund der immensen Popularität des Fußballs gehen die meisten der von mir zu diesem Thema befragten Funktionäre davon aus, dass es schnell zu einer Rückkehr zum Vor-Corona-Fußball kommt und alles wieder so wird, wie es war. Ich persönlich hoffe es nicht. Lassen wir uns überraschen.
Holger Hoeck ist Journalist und schreibt regelmäßig für das Fußball-Magazin “Zeitspiel”. Im Arete Verlag erscheint in diesem Jahr von ihm die “Fußballheimat Rheinland”.