Der Journalist Olaf Jansen hat im Arete Verlag ein Hintergrundbuch über Katar und die Fußball-Weltmeisterschaft geschrieben.

Hier das komplette Vorwort:

Als Sepp Blatter am 2. Dezember 2010 das Blatt mit dem Namen des WM-Gastgeberlandes 2022 in Brusthöhe hob, war die globale Fußballwelt gelinde gesagt erschüttert: „Qatar“ stand da doch wirklich auf dem simplen Zettel in den Händen des damaligen FIFA-Präsidenten. Das Emirat hatte sich tatsächlich durchgesetzt im FIFA-Exekutivkomitee. 14 von 22 Stimmberechtigten dieses Gremiums hatten für den kleinen Staat am Arabischen Golf gestimmt. Auf der Strecke geblieben waren die konkurrierenden Bewerbungen von Australien, Japan, Südkorea und der USA.
Wie konnte das geschehen? Wie konnte die WM in ein Land gehen, das bis dahin auf der globalen Fußball-Landkarte als winzig kleiner weißer Fleck markiert worden war? In ein Land, das mit seinen noch nicht einmal drei Millionen Einwohnern auf einer Fläche von rund 11.600 Quadratkilometern – etwa ein Achtel der Größe Österreichs – klein ist und in der Fußballwelt lange Zeit keine Rolle spielte. Bis das Geld kam. 1939 begann das alles ganz langsam, als vor der Küste der kleinen Halbinsel Katars das erste Ölvorkommen entdeckt wurde. 1971 fand man das größte Erdgasfeld der Welt. Und alles begann: Reichtum, Entwicklung, Bedeutung in der Region.
Und es wuchs die Bedeutung im Sport, vor allem im Fußball. Die Scheichs des Emirats haben viele Millionen Dollar in den Bau von Sportanlagen im eigenen Land investiert und damit zahlreiche hochkarätige Sportveranstaltungen nach Katar geholt. 1988 fand die Fußball-Asienmeisterschaft erstmals in Katar statt, 2011 noch einmal. Dazu kamen die U-20-WM 1995 sowie die Klub-WM 2019 und 2020. Zudem war Katar Ausrichter von Megaevents wie den Asienspielen 2006 und den Panarabischen Spielen 2011. Die Handball-WM 2015 und die Leichtathletik-WM 2019 waren dann so etwas wie die Vorläufer des Höhepunktes: die Fußball-WM 2022.
Katar hat aber nicht nur im eigenen Land, sondern auch weltweit investiert – in Fußballverbände, Fußballklubs und Einzelsportler. Und es hat Gewicht im Fußball-Weltverband FIFA bekommen. Mit Mohammed Bin Hammam hatte man 2010 schon einen eigenen Mann im Exekutivkomitee des Fußball-Weltverbandes, der zu jener Zeit als potenter und geschickter Strippenzieher galt.
Heute geht kaum mehr etwas im Weltfußball ohne Katar. Die FIFA unterhält glänzende Beziehungen, es ist ein Geben und Nehmen geworden. Man kennt sich, man profitiert voneinander. Die Kuschelei geht sogar so weit, dass Anfang 2022 bekannt wurde: FIFA-Präsident Gianni Infantino hat sich einen Wohnsitz in Katars Hauptstadt Doha zugelegt. Zwei seiner Kinder gehen im Emirat in die Schule.
Aus katarischer Sicht ist das alles eine einzige Erfolgsgeschichte. Andere sahen die Entwicklung nicht ganz so positiv. Allen voran aus Europa blies den Kataris und der FIFA – mit dem 2. Dezember 2010 beginnend – ein kalter Wind der Ablehnung ins Gesicht. Man könne eine WM nicht in ein derart kleines Land geben, in dem es noch nicht einmal eine Fußballkultur gebe – so begann die Kritik. Sie weitete sich im Laufe der Jahre massiv aus. Fehlende Menschenrechte, ein unwürdiger Umgang mit Tausenden von billigen Arbeitskräften, die sich auf den WM-Baustellen scheinbar zu Tode schufteten – zudem fehlende Pressefreiheit, Unterdrückung von Frauen und die zunehmende Überwachung kritischer Zeitgenossen. Katar steht in großen Teilen westlicher Medien bis heute als Schurkenstaat da
Die Sichtweise scheint sich zwar gerade auch aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und dessen Auswirkungen auf die europäische Energieversorgung noch einmal etwas zu verändern. Im März haben Deutschland und Katar laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck eine langfristige Energiepartnerschaft vereinbart. Das sei „großartigerweise“ fest vereinbart worden, sagte Habeck nach einem Treffen mit dem Emir von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani, in Doha. Die Unternehmen, die mit nach Katar gekommen seien, würden nun mit der katarischen Seite in die Vertragsverhandlungen einsteigen, berichtete Habeck.
Aber Fakt ist: Mit der massiven Kritik der internationalen Presse angesichts der miserablen Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter geriet das Emirat zunehmend unter Druck – und reagierte. 2015 hat Katar das kritisierte Kafala-System tiefgreifend reformiert. Seither wurden die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter verbessert, ihre Löhne wurden erhöht und ihre Pässe wurden nicht mehr eingezogen, was auch von internationalen Menschenrechts- und Arbeitsschutzorganisationen anerkannt wird.
Dennoch stellt sich die Kernfrage: Darf eine Fußball-WM in einem Land wie Katar stattfinden? Boykottaufrufe schallen vereinzelt durch die Fußballwelt, der Fußball habe mit dieser WM endgültig seine Seele verkauft, so heißt es. Noch im Februar 2022 berichtete die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch über willkürliche Reiseverbote gegen mindestens vier Bürger, die ohne Rechtsgrundlage verhängt wurden. Klar ist: Katar ist ein Land, das nach wie vor autokratisch geführt wird.
Schnell ist man in der Diskussion bei ethischen Fragestellungen gelandet, noch rascher wird dem tiefer ins Thema einsteigenden Interessierten unweigerlich klar, dass sich der riesige Markt Weltfußball keinesfalls mehr von der Weltpolitik und der weltweiten kapitalistischen Marktwirtschaft und ihren Folgen für die Menschheit trennen lässt. Während Pessimisten mit der WM in Katar den Untergang des Volkssports Fußball prophezeien, sagen andere: Die Fußballwelt, in der einzelne Spieler viele Millionen im Jahr verdienen und sich skrupellose Spielerhändler, Klub-Bosse und Dealer jedweder Couleur die Taschen füllen, bekommt mit der WM in Katar logischerweise genau jene Fußball-Weltmeisterschaft, die sie verdient.
Dieses Buch soll keiner der angesprochenen Richtungen das Wort reden, sondern vielmehr Wissen und Hintergründe vermitteln. Denn es ist klar: Nur wer viel über eine Sache weiß, kann sich auch erlauben, in Diskussionen darüber einzusteigen. Außerdem steht ja – egal, was man davon hält – fest, dass die WM in Katar stattfinden wird. Also wird’s auch höchste Zeit für all jene, die daran vor dem Fernseher oder als Touristen in Katar Teil haben möchten, sich zu informieren. Über die Begebenheiten vor Ort, die Besonderheiten des Landes und die Infrastruktur und Organisation der WM. Eines ist bei aller Kritik sicher: Die WM wird eine Veranstaltung auf unerhört hohem technischem Niveau. Für die anreisenden Fans beginnt der Gigantismus bereits am Flughafen. Sie landen auf dem 2014 eröffneten Hamad International Airport rund zehn Kilometer vor der Stadt. Vom rund elf Milliarden teuren Flug-Drehkreuz Dohas geht es über die mehrspurige Autobahn – oder besser noch in der 2019 eröffneten Metro – innerhalb weniger Minuten ins Stadtinnere.
Die rund 40 Milliarden teure U-Bahn ist auch für den Transport zwischen den acht WM-Stadien von Bedeutung. Die sind sämtlich ans Metro-Netz angeschlossen – so liegen alle Arenen maximal 75 Minuten Fahrzeit auseinander. Die WM 2022 wird ein Turnier der kurzen Wege wie noch niemals zuvor. Für Fans ist es theoretisch kein Problem, gleich bei mehreren Spielen pro Tag live vor Ort dabei zu sein.
Zumindest wird ihnen das möglich sein, wenn sie sich eher mehr als weniger in der digitalen Welt auskennen. In Katar geht beinahe alles über das Internet und Smartphone-Apps. Um überhaupt einen Visumantrag für das Emirat stellen zu können, ist es nötig, sich mittels Passkopien, Buchungsbestätigungen, Covid-Test und Impfzertifikat auf der „Etheraz“-App des staatlichen Gesundheitswesens zu registrieren. Mit dieser Registrierung erhält man Zugang zur Visums-App. Wer diese Hürde genommen hat, kann sich online um eine sogenannte Fan-ID bemühen, mit der man wiederum Zugang zum Tickettool für die Fußballspiele bekommen kann. Beinahe unnötig zu erwähnen: Wissenswertes über Ort, Zeit und sonstige Informationen zu den Spielen, Stadien und Hotels während des Turniers, sind ausschließlich online zu erfahren. Gedrucktes Papier ist aus der Welt Katars nahezu verschwunden.
Datenschutz und Persönlichkeitsrechte sind unter diesen Umständen mutmaßlich eher heikle Themen. All jene, die sich auf die „Etheraz“-App einlassen, um bei der WM dabei zu sein, werden zu gläsernen Menschen. Aufenthaltsort und Bewegungs-Profil des Katar-Besuchers sind im Prinzip jederzeit einsehbar.
Wer sich trotz allem für einen Besuch entschieden und sich bis Doha durchgeschlagen hat, darf hinein: In eins oder mehrere der acht neuen Stadien, die seit der WM-Vergabe 2010 aus Katars steinigem Boden gestampft worden sind. Die acht Bauwerke, die mit etwa vier Milliarden Euro Baukosten zu Buche schlugen, gelten aus rein architektonischer Sicht als wahre Wunderwerke.

Und nun viel Spaß beim Lesen, Informieren und Vorbereiten!

Mehr zu Katar und die Fußball-Weltmeisterschaft im Buch: Olaf Jansen, Katar – Der Wüstenstaat und die Fußball-Weltmeisterschaft, Arete Verlag: 2022, ISBN 978-3-96423-091-1, EUR 16,95

Auf sportschau.de gibt es auch von Olaf Jansen den Blog “Zu Gast bei Fremden” über seine Erfahrungen während des Arab Cups 2021.