Carsten Gier über den Fußball im Saarland im Interview mit dem Arete Verlag

Hallo Carsten. Du hast die „Fußballheimat Saarland: 100 Orte der Erinnerung“ geschrieben. Für viele Menschen außerhalb des Saarlandes ist dieses Bundesland eher ein wenig exotisch. Erklär uns doch bitte mal in wenigen Sätzen, was für das Saarland und den Saarländer an sich typisch ist.

Ok, die am schwierigsten zu beantwortende Frage kommt gleich zu Beginn. Man kann ja einiges darüber lesen, was als typisch saarländisch gilt. Vieles davon ist Klischee, aber teilweise stimmt es natürlich auch.
Man hat vielleicht das Bild einer Industrieregion und eines dicht besiedelten Ballungsraumes im Kopf, aber das trifft nur auf einen Teil des Landes zu. Weite Teile sind ländlich geprägt, fast 40% der Fläche ist bewaldet. Es gibt sehr schöne Landschaften wie das Biosphärenreservat Bliesgau, den Saargau mit seinen Streuobstwiesen oder den Hochwald mit wunderschönen Wanderwegen. Und die Saarschleife, das bekannteste Foto-Motiv im Saarland, hat sowieso vermutlich jeder schon mal gesehen. Die – unbedingt sehenswerte – Völklinger Hütte ist also zwar durchaus typisch für das Saarland, aber die Saarschleife oder der Schaumberg, von dem man einen Blick weit übers Land hat, sind es ebenso.
Charakteristisch ist natürlich die Nähe zu Frankreich, die sich auch in mancher Hinsicht in der allgemeinen Lebensart äußert. Saarlouis zum Beispiel bietet definitiv ein gewisses französisches Flair. Aber dass alle Saarländer perfekt zweisprachig wären, jeden zweiten Tag nach Lothringen rüberfahren und ansonsten mit dem Baguette unterm Arm herumlaufen wie früher Kommissar Palü im „Tatort“, das entspricht, vorsichtig formuliert, nicht ganz der Realität. Selbstverständlich gibt es aber enge Verbindungen, was angesichts der gemeinsamen Geschichte ja auch nicht verwunderlich ist. Und diese deutsch-französische Mischung finde ich ganz wunderbar.
Die Saarländer sind heimatverbunden. Jedenfalls halten viele auch dann die Verbindungen in die Heimat aufrecht, wenn sie aus beruflichen Gründen nicht im Saarland leben. Ich würde die Saarländer außerdem als offen, freundlich und hilfsbereit bezeichnen. Man feiert auch gerne; die vielen Dorffeste und die großen Stadtfeste in Saarbrücken und Saarlouis sind immer gut besucht. Dort wird dann auch das Genießen zelebriert, was auch als typisch saarländisch gilt. Und so steht zum Beispiel auch auf vielen Sportplätzen der unvermeidliche und typische Schwenkgrill. Nicht zuletzt gilt „Hauptsach gudd gess“ als Wahlspruch des Saarlandes – auch wenn da natürlich sehr, sehr viel Klischee drinsteckt. Es gibt im Saarland aber auch, auf die Einwohnerzahl umgerechnet, mehr Sternerestaurants als woanders in Deutschland.

Nach welchen Kriterien hast du die 100 Orte ausgewählt und welche Orte hättest du eigentlich noch gerne reinnehmen wollen, wenn Platz dafür gewesen wäre?

Ich habe alle Vereine und ihre Sportstätten aufgenommen, die irgendwann einmal in der Oberliga oder Regionalliga Südwest gespielt haben. Dazu kamen dann noch einige weitere Vereine, die eine besondere Geschichte zu erzählen hatten, und natürlich diverse Persönlichkeiten, die den Saar-Fußball prägten, auch jenseits des Fußballfeldes: Hermann Neuberger oder Sportschau-Moderator Werner Zimmer zum Beispiel. Ein großer Schwerpunkt war schließlich die saarländische Autonomiezeit in den 50er Jahren, als das Saarland ja auch eine eigene Nationalmannschaft stellte und Länderspiele bestritt. Die Jahre als autonomer Staat machen natürlich das Saarland auch als Fußballregion besonders, und in diese Zeit verweisen nicht wenige der Orte, die ich ausgewählt habe. Aus diesem Themenbereich sind es dann meist nicht Stadien oder Sportplätze, sondern andere Gebäude wie die Sulzbacher Festhalle, in der 1947 der Saarländische Fußballbund gegründet wurde oder der ehemalige Sitz des französischen Hochkommissariats, das 1949 auf einen eigenständigen saarländischen Spielbetrieb pochte. Ich habe auch darauf geachtet, die Orte möglichst über das ganze Land zu verteilen und nicht alles auf Saarbrücken zu konzentrieren, sodass auch der ländliche Raum abgedeckt ist, obwohl die meisten Orte natürlich schwerpunktmäßig im Ballungsraum um Saarbrücken und Völklingen liegen.
Auf meiner Auswahlliste hatte ich noch zahlreiche weitere Orte, die ich auch noch hätte beschreiben können, aber dann aussortieren musste. Das waren zum Beispiel sehenswerte Stadien wie das Bungertstadion in Rehlingen, das allerdings eher für Leichtathletik-Veranstaltungen genutzt wird als für Fußball, oder Vereine, über die es auch interessante Geschichten zu erzählen gegeben hätte wie den Universitäts-Sportverein UFC Wacker 73. Die Frage war also nie: „Kriege ich im kleinen Saarland denn überhaupt 100 Orte zusammen?“ Sondern immer: „Welche Orte aus der Liste schaffen es ins Buch?“

Was hat dich bei deiner Recherche und deinen Gesprächen vielleicht selbst überrascht? Gibt es Seiten oder Ereignisse des saarländischen Fußballs, die du so noch nicht kanntest?

Ich hatte mich zuvor noch nie so tief in die jeweiligen Vereins-Historien hineingegraben, und das war schon spannend. Ich habe ja eine Webseite zu den Vereinen der Oberliga Südwest erstellt und dort auch die Vereinsgeschichte beschrieben, aber für die „Fußballheimat“ musste und wollte ich einen anderen Blickwinkel finden, jenseits der reinen Ergebnislisten. Die Texte sollten ja keine Aneinanderreihung von Ligenzugehörigkeiten, Punktzahlen und Tordifferenzen werden. Und in den Vereinschroniken stößt man dann immer wieder auf nette Details, Informationen und Anekdoten. Überrascht hat mich zum Beispiel, dass es zu bestimmten Themen nur sehr wenig Informationen gibt. Selbst auf die Frage, wo der VfR Saarbrücken seine Spiele in der Frauen-Bundesliga ausgetragen hat, findet man nicht mal eben sofort eine Antwort, in diesem Fall wohl auch, weil der Verein heute nicht mehr existiert. Der Frauenfußball, den ich im Buch unbedingt auch behandeln wollte, ist aber generell überraschend dürftig dokumentiert.

Du hast auch drei Orte aus Lothringen mit in das Buch genommen. Welche fußballerischen Verbindungen bestanden und bestehen zwischen Lothringen und dem Saarland?

Die beiden Regionen sind zwar durch eine Staatsgrenze getrennt, haben aber eine sehr enge gemeinsame Geschichte mit vielen Gemeinsamkeiten und Verbindungen. Alleine schon, weil es sich ja im Grund um eine einzige große Industrieregion handelt, in der der Steinkohlebergbau und die Stahlindustrie dominierten. Lothringen und das Saarland waren und sind sich also in vielen Punkten sehr ähnlich.
Diese Gemeinsamkeiten greifen natürlich auch in der Fußballwelt. Im Zweiten Weltkrieg mussten die lothringischen Vereine zum Beispiel in die damaligen Gauligen wechseln, und Metz oder Sarreguemines spielten ein paar Jahre im deutschen Spielbetrieb. Auch in der Autonomiezeit der 50er Jahre gab es – politisch gewollte – Verbindungen. Das Saarland war damals ja recht eng an Frankreich angebunden. Der 1. FC Saarbrücken spielte sogar ein Jahr in der zweiten französischen Liga, wenn auch außer Konkurrenz. Heute gehen viele grenzüberschreitende Beziehungen von den Vereinen aus, die ja oft direkte Nachbarn sind. Es gab bereits Spielgemeinschaften, wie zwischen Habkirchen (Deutschland) und Frauenberg (Frankreich). Vereine ohne eigenes Sportgelände weichen auch nach Frankreich aus, wie der FC Klarenthal-Krughütte. Viele Lothringer spielen heute auch in saarländischen Clubs; der SC Altenkessel hatte vor ein paar Jahren sogar mal eine Mannschaft, die nahezu komplett aus französischen Spielern bestand. Die FCS-Fans schließlich pflegen eine sehr enge und intensive Freundschaft zum AS Nancy. Nancy oder Metz hätten also durchaus auch als Orte in das Buch gepasst, aber ich wollte mich auf die Orte beschränken, die wirklich sehr nah an der Grenze liegen, daher habe ich mich auf Schœneck, Sarreguemines und Forbach beschränkt.

In den wenigen Jahren der Unabhängigkeit des Saarlandes nach dem II. Weltkrieg gab es auch eine eigene saarländische Nationalmannschaft, die sogar in der WM-Qualifikation gegen die Herberger-Truppe gespielt hat. Haben sich die Saarländer mit dieser eigenen Auswahl, die ja nur für wenige Jahre bestand, identifiziert?

Ich habe diese Zeit zwar nicht selbst erlebt, aber ja, ich denke schon, dass es eine Identifikation gab, zumindest in gewissen Maße. Das Länderspiel gegen die BRD im März 1954 war für das Saarland auf jeden Fall ein großer Tag. Das wird aus allen Quellen und Berichten über dieses Spiel sehr deutlich. Auch bei den anderen Länderspielen waren der Ludwigspark oder der Kieselhumes immer gut besucht, auch wenn man die Zuschauerzahlen etwas anders betrachten muss, wenn man sie mit den heutigen Zahlen vergleicht, denn die Spiele waren damals ja bis hinunter in die Amateurligen sehr gut besucht. Die Identifikation mit der Nationalmannschaft dürfte vermutlich auch eine Frage der persönlichen Einstellung zum Autonomie-Statut des Landes gewesen sein. Manche Saarländer werden sich stark mit dem Team identifiziert haben, andere weniger. Bei der Volksabstimmung 1955, mit der zwischen dem Autonomie-Statut und einer Rückkehr nach Deutschland entschieden werden sollte, gab es zwei ausgeprägte Lager, zwischen denen es bisweilen hoch herging. Die Trennlinie zwischen Ja und Nein verlief auch mitten durch die Familien. Am Ende gab es dann eine deutliche Mehrheit (etwa zwei Drittel) für Deutschland. Ich denke, für eine flächendeckende sehr starke Identifikation mit der Nationalmannschaft war die Zeit schlicht zu kurz; sie bestand ja nur sechs Jahre und der autonome Saarstaat nicht viel länger. Die Nationalspieler waren aber auf jeden Fall sehr beliebt und, wie Herbert Martin oder Herbert Binkert, bis ins hohe Alter unvergessen.

Du bist ein großer Fan des Ellenfeld-Stadions in Neunkirchen. Für diejenigen, die es nicht kennen oder zumindest noch nicht gesehen haben: Was ist das Besondere an diesem Stadion? Und ist sein Bestand in der jetzigen Form gesichert?

Das Ellenfeld ist einfach ein wunderschönes Stadion, mit viel Charme und Flair. Jedenfalls aus dem Blickwinkel eines Fußballromantikers, denn den Komfort moderner Neubauten bietet es natürlich nicht. Das Besondere daran ist: Es ist das einzige reine Fußballstadion in Deutschland, das in der Zeit der Bundesliga-Gründung erbaut wurde und sich in dieser Form erhalten hat. Nur die Haupttribüne ist jünger, der Rest ist noch mehr oder weniger unverändert aus den Sechzigern, vor allem die auf offenen Stützen ruhenden Ränge im Westen und im Block 5, die Stehränge auf er Nordseite sowie der komplette Osttrakt. Wenn man ein Faible für alte Stadionarchitektur hat, ist das Ellenfeld großartig, vergleichbar vielleicht mit der Grünen Au in Hof, der Adolf-Jäger-Kampfbahn von Altona 93 oder dem Stadion am Schloss Strünkede in Herne, die ja auch immer wieder beliebte Reiseziele für Groundhopper sind. Das Ellenfeld ist also wunderschön, aber auch teuer und pflegeintensiv. Teile der Anlage sind ziemlich marode und seit Jahren für Zuschauer gesperrt, und der Trakt auf der Ostseite könnte definitiv auch eine Sanierung vertragen, um es mal vorsichtig zu formulieren. Hier gibt es aktuell auch Renovierungspläne. Kurzfristig ist der Bestand damit auf jeden Fall gesichert. Aber Neunkirchen ist weder eine große noch eine reiche Stadt, und Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Was langfristig auch den Erhalt gefährden könnte.

Aus dem kleinen Saarland kommen mit Borussia Neunkirchen, dem 1. FC Saarbrücken und dem FC Homburg immerhin drei Bundesligisten – da wären andere, größere Bundesländer wie Schleswig-Holstein sehr stolz darauf. Momentan ist die sportliche Lage allerdings eher trist. Der 1. FC Saarbrücken spielt in der 3. Liga mit vagen Aufstiegshoffnungen, Homburg in der Regionalliga und Neunkirchen in der Saarlandliga. Was sind die Gründe?

Die sind sehr vielschichtig, glaube ich, und auch bei jedem Verein anders. Insgesamt sind natürlich der Strukturwandel und der Niedergang der alten Industrien auch im Fußball spürbar. Speziell Borussia Neunkirchen und Röchling Völklingen konnten damals nur so weit oben mitspielen, weil das Land wirtschaftlich stark war. Parallel zu den Kohle- und Stahlkrisen ging es in den 70er Jahren dort auch im Fußball abwärts. Da ist das Saarland nicht anders dran als das Ruhrgebiet, wo ja Vereine wie Westfalia Herne, die SpVgg Erkenschwick oder Hamborn 07 auch dauerhaft in den Amateurligen verschwunden sind. Neunkirchen war eine Industriestadt, aber die Eisenhütte wurde 1982 geschlossen, die Gruben schon vorher, die Schloss-Brauerei etwas später. Einem Verein wie Borussia Neunkirchen fehlen also wichtige Unterstützer, und so ist heute selbst die Regionalliga kaum mehr finanzierbar. In Homburg und Saarbrücken ist es etwas anders; die hatten ja auch in den 80er und 90er Jahren noch Bundesliga-Spielzeiten. Homburg hatte seine große Zeit unter Geitlinger und Ommer, und als deren Modell nicht mehr zog, kam der Verein ins Schlingern. Beim FCS habe ich keine tiefen Einblicke, aber ein Knackpunkt war mit Sicherheit der Lizenzentzug 1995. Danach folgte eine Mischung aus sportlichem Pech und finanziellen Problemen. Einen Fall aus der zweiten in die fünfte Liga innerhalb von zwei Jahren (2006-08) steckt man nicht mal so eben weg. Das dauert einfach lange, bis so ein Absturz wieder nachhaltig korrigiert ist. Zumal die Regionalliga eine Falle ist, aus der man nur schwer wieder rauskommt, siehe Rot-Weiss Essen. Die versuchen seit Jahren verzweifelt, durch dieses Nadelöhr zu kommen und sind damit nicht alleine. Immerhin hat, nach mehreren vergeblichen Anläufen, ja der FCS nun wieder der Sprung in die Dritte Liga geschafft, und Elversberg als saarländischer Regionalligist hat ja auch den Anspruch, wieder aufzusteigen.

Wenn du nicht gerade deinem Beruf nachgehst oder ein Buch schreibst, pflegst du die Internet-Seite suedwest-fussball.de. Was hat es damit auf sich?

Ich hatte mal die Idee, die Vereine des Fußball-Südwestens, also Rheinland-Pfalz und Saarland, in einem Buch zu beschreiben, eventuell in der Form, wie es Hardy Grüne in seinen Bänden „Legendäre Fußballvereine“ für Niedersachsen und Hessen gemacht hat. Ich bin also mit meiner Kamera in der Gegend herumgefahren, habe die Sportstätten fotografiert und Spiele besucht, vor allem von ehemaligen oder aktuellen Oberligisten wie Glas-Chemie Wirges, Hassia Bingen, BSC Oppau und so weiter. Die Stadionbilder habe ich dann, damit das alles nicht bloß auf der Festplatte vergammelt, auf eine Webseite gepackt und das Ganze um Vereinshistorien, eine Stadiongeschichte und kurze Ortsbeschreibungen ergänzt. So ist daraus eine Art Vereinslexikon geworden. Eigentlich müsste ich die Seite dringend mal aktualisieren, weil sich die neuesten Entwicklungen in den Texten noch nicht finden. Das ist ja auch nur ein Freizeit-Projekt, und es ist in den letzten zwei, drei Jahren etwas untergegangen.

Du hast drei Wünsche bei der Fußball-Fee frei. Was wünscht du dir für den saarländischen Fußball?

Dass Borussia Neunkirchen nochmal im DFB-Pokalfinale gegen Schwarz-Weiß Essen spielt und dieses Mal gewinnt … Zu ambitioniert? Na gut, ich will die arme Fee nicht überfordern. Also: Auf jeden Fall den Erhalt des Ellenfeld-Stadions – eventuell mit Denkmalschutz. Dann zweitens, dass das Saarland auch weiterhin gute Fußballer hervorbringt wie zuletzt Jonas Hector oder Patrick Hermann. Und drittens für Borussia Neunkirchen, Röchling Völklingen und alle anderen Vereine, die im gehobenen Amateurbereich unterwegs sind: Mehr Aufmerksamkeit in den Medien und mehr Zuschauer im Stadion. Das hätten die Vereine nämlich verdient.

Vielen Dank für das Gespräch!